Ich habe heute meiner Redaktion bei Trott-war meine Wahlanalyse nach der Europawahl übermittelt und hoffe sehr, dass dieser Text noch in der nächsten (Juli 2024) Ausgabe veröffentlicht wird.
Hier der exklusive Text für die BesucherInnen meiner Webseite:
Europawahlen 2024: Es ist noch nichts verloren!
Ein genauerer Blick auf die Ergebnisse der Europawahlen lohnt ebenso wie das Nachdenken darüber, was die Ergebnisse bedeuten könnten.
Da sind zunächst die reinen Zahlen. Die AfD ist zweitstärkste Kraft in unserem Land geworden. 15,9 Prozent der WählerInnen haben den Rechtsextremen ihre Stimme gegeben. In einzelnen Bundesländern lagen die Ergebnisse sogar über 30 Prozent.
Wir beruhigen uns immer mit dem Argument, dass es weniger seien als es die Umfragen noch vor einigen Monaten prognostiziert hätten.
Aber beruhigt das – oder mindert es nur den Schock? Das neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) deckt einen weiteren Rand ab, wobei es noch nicht ganz klar ist, ob dieser Rand links außen ist – oder es sich nur eine weitere Rechtspartei im linken Kleid handelt. Ferner haben Klein- und Kleinstparteien in Europa an Bedeutung gewonnen.
Was also bedeutet das alles?
Ist es die Einleitung zu italienischen Verhältnissen, wo ständig neue Gruppierungen die Altparteien teilweise pulverisiert-, und am Ende vor allen Dingen den Rand ganz Rechtsaußen gestärkt haben? Wir dürfen uns nicht damit beruhigen, dass 84,1 Prozent der Wählerschaft nicht die AfD gewählt haben, denn genau das sagt nichts über eine sichere und stabile Demokratie aus.
Es verrutscht etwas in unserem Land.
Die taz schrieb in einem Artikel, dass das wirklich Erschreckende die Zahl der Menschen sei, die angaben, Angst vor „zu vielen Ausländern“ zu haben. Damit ginge die Analyse dieser Wahl weit über die AfD-Anhängerschaft hinaus. Bedeutet das also, dass es auf das Video der feiernden reichen Rassisten auf Sylt zwar viel Empörung gab, aber dass genau, was sie dort gesungen haben, von vielen Deutschen geteilt wird?
Die Rassisten von rechts und links werden den Kampf gegen die Migration in ihrem Sinn nicht gewinnen. Ein Blick auf die Straßen unseres Landes genügt, um festzustellen, dass unser Anteil an „Deutschen reinen Blutes“ (AfD-Wunsch) nie mehr so werden kann und wird wie in den Nachkriegsjahren. Auch das dumme und sinnfreie Plakatieren des Themas Remigration wird nicht verhindern, dass der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund bei uns in Deutschland und in allen anderen westlichen Gesellschaften zunehmen wird.
Die taz schrieb weiter, dass eine Abschottung unseres Landes, wie zum Beispiel in Japan, gleichbedeutend mit einem Abstieg für das verbleibende „deutsche Volk“ sei. Die Folgen einer stark schrumpfenden und völlig überalterten Bevölkerung könne man gerade am Beispiel Japan bestens beobachten. Und -wie in Japan- gäbe es auch bei uns schon Orte, die zu Geisterstädten werden.
Die etablierten Parteien dürfen bei allen berechtigten Wünschen nach Toleranz nicht ignorieren, dass das Gefühl von Sicherheit in unserem überliberalen Land allmählich verloren geht. Verurteilte Straftäter befinden sich weiterhin in Freiheit. Bekennende Extremisten mit linken, rechten oder islamistischen Gesinnungen als nicht greifbare Gesetzlose durch unser Land. In unserem Rechtssystem werden Rettungskräfte, Polizei und Feuerwehr gefährdet und attackiert. Ehrenamtliche und mandatierte Kommunalpolitiker erhalten psychische und physische Bedrohungen. Wir haben in Teilen eine falsch verstandene Liberalität, denn ein liberaler Rechtsstaat muss auch intolerant gegenüber seinen Feinden sein. Dazu braucht es einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, eine Umsetzung nach dem Inhalt und Sinn unserer Gesetze. Ohne Antworten auf die Fragen der inneren Sicherheit punkten die politischen Ränder auch weiter mit zunehmender Wählerschaft!
Die Kriege und ihre Lösungen
Sowohl die AfD als auch das BSW fordern eine Annäherung an Russland (und China). Dies kommt de facto einer Übergabe der Ukraine an den russischen Aggressor gleich, also eine Kapitulation des Landes, das von Russland grundlos angegriffen wurde. Welch eine Farce, an die offensichtlich mehr als ein Fünftel der Wählenden glauben. Alle anderen Parteien stehen damit als Kriegstreiber auf der anderen Seite. Es bleibt abzuwarten, ob die eskalierende Drohkulisse des russischen Präsidenten die deutsche Bevölkerung weiter zunehmend verunsichert. Dies bedeutet, dass die Fortsetzung oder sogar die Eskalation der kriegerischen Handlungen auch darüber entscheidet, welchen weiteren Stimmenzuwachs die AfD und das BSW bekommen.
Und das Klima?
Viele Menschen glauben, dass sich Deutschlands Klimapartei Bündnis 90/DIE GRÜNEN nicht (mehr) konsequent für Klimaschutz einsetzt. Tatsache ist, dass die grüne Regierungsbeteiligung aufgrund der Ampel-Konstellation bislang kaum zu dringend notwendigen Veränderungen der Klimapolitik in Deutschland geführt hat.
Es erstaunt und verstört, dass der Anteil der Menschen, die sich Sorgen über die Zerstörung unsere Lebensgrundlagen durch die Klimakrise machen, im Vergleich zu 2019 deutlich gesunken ist! Damit scheinen die Klimaveränderungen für eine zunehmende Zahl der deutschen Bürgerschaft bei deren Zukunftsplanung keine Rolle mehr zu spielen. Wie kann das sein, nachdem gerade halb Süddeutschland im Hochwasser versunken ist? Ignorieren wir die gleichzeitigen Rekordhitzewellen in Nordamerika, Pakistan, Indien, Griechenland oder der Türkei? Ist das Jahr 2019 aus unserer Erinnerung verschwunden, als die Fridays-For-Future-Bewegung mit mehr als 1,5 Millionen Menschen beim Klimastreik auf den Straßen unseres Landes unterwegs war?
In den Jahren zuvor hatte das Thema Migration die Talkshows dominiert, wovon in erster Linie die AfD profitiert hatte. Im Jahr 2019 schien sich das Blatt gewendet zu haben. Statt über „kriminelle Ausländer“ sprach Deutschland über den Klimawandel. Die AfD hatte zu diesem Thema nichts zu sagen, denn für sie gibt es den Klimawandel nicht, und zwar bis heute. Auch das BSW hat sich der Fraktion der Klimaleugner angeschlossen. Trägt die Verleugnung der Faktenlage zu den Klimaveränderungen sogar zum erfolgten Zuspruch der Wählerinnen und Wähler für die Parteien der Klimazweifler bei?
Es ist frustrierend, dass sich die politische Stimmung beim Thema des Weltklimas so stark gedreht hat. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Klimaveränderungen den Lauf der Geschichte in den kommenden 10-15 Jahren bestimmen werden.
Es geht nicht nur „um die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder“, sondern schlicht und ergreifend um einen Planeten, auf dem wir Menschen auch in 100 Jahren noch leben können. Jetzt. Heute. In unserer aktuellen und zukünftigen Lebensspanne.
Diese zugegeben unbequeme und verstörende Tatsache sollten wir uns alle vor Augen halten.
Der ehemalige deutsche Botschafter in Russland, Rüdiger von Fritsch, fasste seine Analyse der Europawahl wie folgt zusammen: „…seit 2019 ist unendlich viel geschehen, nicht nur was die direkten und indirekten Folgen aus der Corona-Pandemie der Jahre 2020 und 2021betrifft. Der schreckliche Krieg, den Russland begonnen hat, die Misere unserer Wirtschaft, die Energiepreise und anderes mehr haben die Wählerschaft und deren Wahlverhalten beeinflusst.“ Rüdiger von Fritsch hat die Ansicht, dass sich viele Wählerinnen und Wähler nun gesagt hätten, dass bei den für ihre Wahlentscheidung relevanten Themen der Klimawandel kaum noch eine Rolle spiele. Andere Themen seien für sie bei der Stimmabgabe wichtiger gewesen. Bei Parteien, die ihnen noch im Jahr 2019 und auch bei der Bundestagswahl 2021 die Antworten auf die großen Fragen versprochen hätten, fänden sie nun diese Antworten nicht mehr. Von Fritsch hob hervor, dass das Wahlvolk nun die Parteien ausgewählt hätte, die behaupten, dass es auf die hochkomplexen Fragen unserer Gegenwart ganz einfache Antworten gäbe.
Diese einfachen Antworten lauten sehr plakativ: Migration beenden. Abschiebung und Remigration schnell und kompromisslos. Frieden mit Russland. Renaissance von fossilen Energieträgern, da es den Klimawandel ja nicht gibt.
Es gibt keine einfachen Antworten auf Migration, die Haltung zu Russland und dem Ukraine-Krieg oder die Bedeutung des Klimawandels, mit denen AfD und BSW bei den Wahlen am 9. Juni 2024 gepunktet haben Aber wir haben die Möglichkeit, Dinge zu verändern. Wenn wir alle das wollen.
Oder wir drehen den Realitäten den Rücken zu und wählen den vermeintlich einfachen Weg der Populisten in eine Sackgasse, die den Namen „Straße des fehlenden Denkens“ verdient.
Ralf Roschlau, im Juni 2024

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